B. DIE FORSCHUNGSRESULTATE -
EINE HYPOTHESENGESCHICHTE

III. Räter und Illyrer

Beeinflusst vom Panillyrismus, den Gelehrte wie Friedrich Stolz ab 1892 in der linguistischen Forschung verbreiteten, erlagen auch einige sich mit der Räterfrage befassende Wissenschafter der Versuchung, die unerklärliche rätische Sprache mit den Illyrern in Verbindung zu bringen. Unterstützt von den trügerischen Erkenntnissen der «illyrophilen» Etymologen, die einen grossen Teil der vorrömischen Alttiroler Ortsnamen aus der illyrischen Sprache deuteten, hielt sich eine Zeit lang die Hypothese aufrecht, die Räter seien unter starker illyrischer Beeinflussung gestanden oder seien gar mit ihnen verwandt gewesen.

 Friedrich Stolz vertrat die These, im südlicheren Teil Alttirols hätten in vorrömischer Zeit durchaus Etrusker gelebt, es sei jedoch gegen Norden hin ein immer stärkerer illyrischer Einfluss vorhanden gewesen. Stolz griff dabei zurück auf die Behauptung Strabons, die Breuni oder Breonen, ein antiker Stamm Tirols, seien Illyrer gewesen (s. A I.). Derselben Meinung war u.a. auch Oswald Menghin (1914). Dem Namen «Räter» kam dabei nur mehr eine eingeschränkte Bedeutung zu, er war für Stolz ein blosser Sammelbegriff für alle in den «rätischen» Gebieten beheimateten Stämme. (117)

Im bereits erwähnten Bericht über das Täuber-Referat von 1914 (s. B II.) wurden ebenfalls Mutmassungen bezüglich einer Verbindung zwischen dem Rätischen und dem Illyrischen angestellt: «Dr. Täuber findet zum mindesten eine Wesensverwandtschaft der Räter mit den anstossenden Illyriern und mit deren möglichen Nachkommen, den Albanern, auch einige überraschende sprachliche Berührungspunkte.» (118) Einige der in Graubünden gefundenen Bronzegegenstände hielt Täuber für verwandt mit auf dem Balkan ausgegrabenen Exemplaren. Ausserdem glaubte er an eine Übertragung von griechischen Wörtern via Albanisch-Illyrisch ins Rätische (resp. Rätoromanische). (119) Solche Hinweise, die (wie im gleichen Artikel erwähnt) von sprachwissenschaftlicher Seite heftig kritisiert wurden, betrachtete Täuber als ausreichend, um eine enge Beziehung zwischen Rätern und Illyrern zu postulieren.

Giuliano Bonfante stützte sich noch 1935 auf die Forschungen Stolzë und hielt das Rätische für einen illyrischen Dialekt. (120) Der Bündner Historiker Friedrich Pieth gab denselben Betrachtungen in seiner 1945 erschienenen Bündnergeschichte ebenfalls Raum: «Während die ältere Eisenzeit noch in Dunkel gehüllt ist, darf für die Mitte des letzten Jahrtausends v. Chr. eine stärkere Einwanderung ins Rheingebiet und Engadin von Osten her angenommen werden. Nach den archäologischen Funden zu schliessen, waren es Leute venetoillyrischer Abstammung. Die Sprachforschung bestätigte diese Annahme, indem sie eine ansehnliche Zahl von Orts- und Flurnamen und landwirtschaftlichen Bezeichnungen als illyrischer Herkunft nachwies. (121) (...) Aus der Verschmelzung der illyrischen Einwanderer mit den bronzezeitlichen Urbewohnern ging die Bevölkerung des Rheingebiets und des Engadins hervor, die die Römer allgemein Räter nannten, die somit Bewohner verschiedener Abstammung einschloß.» (122) Pieth betrachtete den Begriff «Räter» also auch nur als Sammelbezeichnung für verschiedene Stämme, die weiter nichts gemeinsam haben mussten als ihr Wohngebiet.

Kreisförster Walo Burkart, der in den zwanziger Jahren mit Ausgrabungen in Graubünden begann und sicher in Kontakt mit Pieth stand, vertrat eine ähnliche Haltung. In einem Bericht über die Grabungen am Bot Panadisch in Bonaduz, publiziert in einem Bündner Monatsblatt von 1946, erkannte er den Rätern illyrische Herkunft zu, obwohl seine Grabungsresultate dagegen sprachen. Er begründete diese Annahme allein aus der vermuteten Illyrizität des Hügelnamens «Panadisch». Auf Grund seiner Überlegungen wollte er «die Niederlassung des Bot Panadisch nicht Leuten keltischer Abstammung, sondern einer Gruppe rätisch - illyrischen Volkes zuschreiben, das schon stark unter keltischer Beeinflussung gestanden hat.» (123) Damit beseitigte Burkart auch die Widersprüche zwischen seiner Illyrer-Theorie und den Funden von Bonaduz, die zwar einen starken keltischen, hingegen keinen illyrischen Einfluss zeigten. In den selben zeitlichen und kulturellen Rahmen ordnete er nicht nur die Ausgrabungen vom Bot Panadisch ein, sondern auch «die Siedlungen Grepault bei Truns und Lichtenstein bei Haldenstein (...), ferner das Refugium Lisibühl bei Untervaz, Jörgenberg bei Waltensburg, Muotta da Clüs bei Zernez, Muotta Chasté ebenda, das Padnal bei Susch, die Siedlung Las Muottas bei Lavin, die Botta Striera bei S-chanf (...).» (124) Die rätisch-illyrische Bevölkerung hatte sich also laut Burkart über den ganzen Kanton Graubünden ausgebreitet und dort ihre Spuren hinterlassen.

Ein weiterer Vertreter der Illyrer-Hypothese war P. Flurin Maissen. In seinem Aufsatz «Origin dils Rets, de lur patria e lur lungatg» (1965) ging auch er davon aus, die Urbevölkerung Graubündens habe sich mit den eingewanderten Illyrern vermischt oder sei durch diese gänzlich ersetzt worden, wobei die Einflüsse anderer Völker (Kelten etc.) ständig vorhanden gewesen seien. (125) Vielleicht sei es auch so gewesen, dass sogar nach 500 v. Chr. noch Illyrer in das Gebiet des heutigen Graubünden einwanderten und dadurch das illyrische Element in Rätien zusätzlich verstärkten. (126) Maissen erkannte im Rätischen auch venetische Einflüsse und hielt fest, die Veneter seien möglicherweise ein Vorposten der Illyrer gewesen. Sollten es die Veneter gewesen sein, die die illyrischen Elemente nach Rätien gebracht hätten, so müsse man die rätische als eine veneto-illyrische Kultur bezeichnen. (127)
Die Äusserungen von P. Flurin Maissen waren bereits zu seiner Zeit überholt. Der Panillyrismus fand seit dem Ende der fünfziger Jahre in der seriösen Forschung keine Anhänger mehr; der Glaube an eine Ausbreitung der Illyrer über weite Gebiete Europas konnte sich aufgrund neuerer Forschungsresultate nicht länger halten. Ernst Risch betonte in seinem Aufsatz von 1970, nachdem man überall, auch in Rätien, Illyrer nachweisen zu können glaubte, sei diese Hypothese «gerade auch von ihren eifrigsten Vertretern aufgegeben worden: wir können, ja wir müssen sogar heute das Illyrische ganz ausserhalb unserer Betrachtungen lassen.» (128)

 Die strikte Abwendung der Forschung von den Illyrer-Hyothesen erübrigt im Grunde die Zusammenstellung von weiterhin zu beachtenden Erkenntnissen. Trotzdem sei auf folgendes hingewiesen:
 

- Direkte sprachliche Verbindungen zum Illyrischen können dem Rätischen nicht nachgewiesen werden. Eventuell auftretende Ähnlichkeiten können Entlehnungen über andere Sprachen sein.

- Die Stellung des Venetischen als möglicher Vermittler zwischen illyrischem und rätischem Sprachgut kann nicht geklärt werden, solange über das Venetische selbst keine besseren Kenntnisse vorhanden sind.

- Möglich sind gewisse Beziehungen des Venetischen zum Slawischen. Sollte sich diese These bewahrheiten, sind slawische Einflüsse im Rätischen durchaus denkbar. (129) 

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