VORWORT
Der Bündner
Räter-Mythos
Die Räter
haben Spuren hinterlassen. Man erinnert sich ihrer, wenn man Bahn fährt
oder ins Museum geht. Sie haben einer Provinz den Namen gegeben, und
nicht nur ihr. Sie sind omnipräsent, nicht aus den Augen zu verlieren,
sind unübersehbarer Bestandteil einer Identität. Sie sind
hier, mitten unter uns, so plastisch manchmal, dass wir beinahe fürchten,
sie hinter der nächsten Wegbiegung anzutreffen. Sie müssen
sich aufgeführt haben wie die unbesiegbaren Gallier in ihrer Comicwelt,
listig und schlau, unbeugsam. In unserer Vorstellung sind sie die rauhen,
stolzen Bergler, die keinen Respekt kennen vor der römischen Übermacht
aus dem Tiefland Italiens. Ruhiggestellt und befriedet zwar, aber nie
besiegt. Eingefügt ins Reich, aber nie wirklich angepasst. Die
antiken Quellen stützen uns in unserer Imagination. Sie nennen
die Einwohner Rätiens ein räuberisches und wagemutiges Volk,
das plündernd in Oberitalien einfällt und Rom provoziert,
bis man sich dort dazu entschliesst, Drusus mit seinen Truppen gegen
sie zu entsenden. Die Römer, mit keimenden Ambitionen zur Weltherrschaft,
nehmen Rätien ein, und in unseren Köpfen formiert sich die
Idee einer unerbittlichen rätischen Renitenz, die Idee einer «résistance
rhétique», gerichtet gegen die unerwünschten Usurpatoren,
David gegen Goliath. Doch nichts von all dem muss wahr sein. Unser Räterbild
ist eine Fiktion.
Die Forschung hat es ans Tageslicht gebracht: Es gibt bis jetzt keinen
schlagenden Beweis für die Anwesenheit von Rätern in Graubünden.
Selbstverständlich ist unser Kanton bereits zu ihrer Zeit besiedelt,
die jüngere Bronzezeit und die Eisenzeit sind archäologisch
gut belegt. Doch kein Fund lässt definitiv darauf schliessen, dass
hier ein Volk gelebt hat, das - trotz gewisser Überschneidungen
- mit demjenigen identisch ist, das seine Überreste im eigentlichen
rätischen Stammgebiet, in Tirol und Oberitalien, hinterlassen hat.
(1) Es besteht vor allem eine grosse Differenz: Der Gebrauch der Schrift
war den Ureinwohnern Graubündens unbekannt. Während in anderen
sogenannten «rätischen» Gebieten Inschriften gefunden
werden konnten, hat sich dies für unser Gebiet noch kaum bewahrheitet.
Die einzigen bekannten Inschriften aus Raschlinas und Scuol bieten einen
recht dürftigen Beleg; sie können genausogut von Reisenden
stammen, die damals über die Bündner Pässe wanderten.
Es steht ausser Zweifel, dass die Römer mit einem Volk, das sie
Räter nannten, Schwierigkeiten hatten - doch wer diese Räter
waren und wo sie hausten, ist nur sehr schwer zu eruieren. Die antiken
Darstellungen der Geographie der Alpenländer variieren stark und
sind oft unglaubwürdig und ungenau; dasselbe gilt für die
ethnischen Zuordnungen, die die Griechen und Römer vorgenommen
haben. Offensichtlich war es bereits für sie unklar, wo sie die
Räter im Alpengebiet zu lokalisieren hatten. Historische Tatsache
ist jedoch, dass Graubünden zur Provinz Raetia Prima gehörte
- und dass Chur deren Hauptstadt war. Der anhaltende römische Einfluss
fand seine Auswirkungen schliesslich in der Beibehaltung des Namens
«Rätien» für das Gebiet des heutigen Graubünden.
Die Identifizierung der Bündner mit den Rätern ist also gewissermassen
ein römisches Konstrukt, das auf recht wackligen Füssen steht.
Bliebe noch der wagemutige Charakter, den die Römer den Rätern
zuschreiben. Doch auch daran muss man zweifeln. Die historische Forschung
entdeckt heute in vielen antiken Quellen das Bestreben, die Feldzüge
der Römer gegen die Räter zu rechtfertigen, eine «antirätische
Propaganda» sozusagen. Die Geschichtsschreibung Roms benötigte
eine völkerrechtliche Legitimation des Vorgehens gegen ein anderes
Volk - also tendierte man dazu, die Taten der Räter für gravierender
auszugeben, als sie es wahrscheinlich waren. Rom hat einen gewichtigen
Beitrag dazu geleistet, diesen Räter-Mythos entstehen zu lassen,
der auch in unseren Köpfen noch seine Auswirkungen findet.
Es ist an der Zeit, sich vom althergebrachten Räterbild zu verabschieden.
Die Räter waren - ungeachtet ihrer tatsächlichen Herkunft,
die bis heute im Dunkeln liegt - ein durchschnittliches europäisches
Volk der Antike mit - dies gilt zumindest für das Gebiet der Drei
Bünde - wahrscheinlich eher geringen kulturellen Leistungen. Sie
gerieten in Konflikt mit der römischen Expansionspolitik und reagierten
darauf wohl nicht anders als die meisten anderen Stämme, denen
zu dieser Zeit ähnliches widerfuhr - mit anfänglichem Widerstand
und späterer Assimilation. Und: Graubünden war für die
Räter allem Anschein nach nur ein Randgebiet, das sie sich mit
anderen Menschen von z. B. keltischer Abstammung teilten.
Die wenigen Dinge, die wir heute über die Räter wissen, wurden
grösstenteils in den letzten 150 Jahren zusammengetragen.
Die Rätologie hat sich zu einem veritablen Forschungszweig, wenn
auch mit beschränkter Legitimation, entwickelt. Diese Arbeit soll
zeigen, welche Quellen wir zum Thema Räter besitzen, welche Vermutungen
über sie angestellt wurden - und ob man sich eine Zukunft der Räterforschung
vorstellen kann. Es ist über zwei Millennien her, seit diese Ethnie,
die uns immer noch - oder mehr denn je - Rätsel aufgibt, jene Relikte
hinterlassen hat, die seit Beginn der Räterforschung in den Köpfen
einiger Sprachwissenschafter, Archäologen, Philologen und Religionshistorikern
zu Theorien führen, die es teils verdient haben, in die Geschichtsbücher
aufgenommen zu werden, die teils aber auch - der Fortschritt der Forschung
ist ihr Totengräber - schleunigst wieder vergessen werden sollten.
Es ist das Schicksal der Rätologie, dass es ihr schwer fällt,
dieses «try and error»-System einzuhalten. Die Hypothesen
über die Herkunft, die Kultur und die Sprache der Räter sind
in den letzten 150 Jahren in Urwaldmanier wild durcheinander gewachsen;
jeder, der sich einen Weg durch dieses Dickicht zu bahnen versucht,
wird unweigerlich früher oder später die Orientierung verlieren.
Hier gälte es, den Tisch reinzufegen, neue Ordnung aufzubauen,
einen Forschungskonsens, basierend auf den bisherigen Resultaten, zu
errichten - um von dieser Grundlage aus den Gang in die Zukunft anzutreten.
Es ist natürlich nicht weiter verwunderlich, dass sich die Rätologie
solcherart auf Grund gesetzt hat: Sie ist eine der Wissenschaften, die
zu den am spärlichsten mit brauchbaren Quellen ausgestatteten gehört.
Sie stützt sich auf oft ungenaue Erwähnungen antiker Autoren,
auf meist äusserst kurz gehaltene Weiheinschriften, ja sogar auf
die unsicheren Etymologien der Namenforschung. Auf einem solchen Fundament
lässt sich nur schwerlich eine seriöse Forschungstätigkeit
aufbauen; hingegen gedeihen hier vage Vermutungen und wagemutige Theorien
prächtig. Und das Entmutigendste ist: Dem Streben, eine definitiven
Lösung der Räterfrage zu erreichen, kann nur mit grossem Pessimismus
begegnet werden, ja es ist sogar äusserst fraglich, ob eine solche
Lösung überhaupt je möglich sein wird. Gegenwärtig
erstickt die archäologische Situation jede Hoffnung im Keim. Die
Aussicht darauf, eines Tages einen Text in rätischer Sprache zu
finden, der über den einsilbigen Wortlaut einer Weiheinschrift
hinausgeht oder gar einen längeren zusammenhängenden Inhalt
hat, ist gering. Wenn man sich vor Augen führt, wie klein die Anzahl
der Menschen gewesen sein muss, die damals die machtvolle Fähigkeit
des Schreibens beherrschten, und bedenkt, dass diese wenigen Auserwählten
wahrscheinlich einer religiösen Oberschicht von Priestern angehörten,
wird schlagartig klar, dass man mit nichts anderem zu rechnen hat als
mit den bereits bekannten Hirschhornvotiven, Figur- und Gefässaufschriften.
Die Frage nach dem Sinn der Räterforschung erscheint also durchaus
berechtigt. An den Universitäten wird den Studenten von einer Beschäftigung
mit dem Rätischen normalerweise abgeraten; zu gering ist die Aussicht,
auf dieser Grundlage eine akademische Karriere aufbauen zu können.
Die Räter sind ein undankbares Volk. Sie verbergen sich hinter
der undurchdringlichen Mauer von Jahrtausenden. Sollten wir sie demnach
nicht auch mit Verachtung strafen? Dann allerdings schwindet auch die
kleinste Hoffnung, ihnen wenigstens ein Bruchstück ihrer wahren
Identität zu entreissen. Wo also ansetzen? Tabula rasa, das grosse
Reinemachen - hier fände sich ein Neubeginn. Die Forschung muss
sich bewusst werden, dass die Ergebnisse der sogenannten Rätologie
in Tat und Wahrheit Ergebnisse in Einzeldisziplinen wie Archäologie,
Sprachwissenschaft und dergleichen mehr sind. Eine Rätologie, wie
man sie sich wünschen würde, gibt es nicht - noch nicht. Gewisse
Ansätze zu interdisziplinären Studien sind vorhanden, eine
provisorische Neufassung des Inschriftenkorpus (2) liegt vor. Jetzt
gilt es, auch an den Universitäten die Scheu zu verlieren, sich
zu irren, sich auf das scheinbar Hoffnungslose einzulassen. Nur so gibt
es ein Weiterkommen - auch wenn die endgültige Lösung der
Räterfrage aller Voraussicht nach eine Illusion bleibt.
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